Ferienreise von Berlin nach Vrbas

Heidis’ Ferien Erinnerungen in der Batschka

By Heidi Kreutzer 

Der Familiensage nach soll ich die lange Reise bereits mit drei Monaten im Steckkissen mit meiner Mutter und zweijährigen Schwester Beate angetreten haben. Ich erinnere mich nicht, aber da die Besuche im jugoslawischen Batschka-Dorf bei den Großeltern im schönen Zweijahresrhythmus stattfanden, kann ich es mir gut vorstellen.

Meine Mutter war eine couragierte Frau, die mit der wachsenden Töchterschar – zum Schluss waren es vier – und reichlich Gepäck, zu dem unter anderem so nützliche Dinge wie Hutkoffer und Fuchs zählten, die beschwerliche Dreitagesreise zum aufregendsten Abenteuer unserer Kindheit machte.

Beim Abschied am Anhalter Bahnhof war meist die Gemeinde reichlich vertreten. Abschiedsgeschenke beglückten uns, Taschentücher wurden geschwenkt, Tränen flossen, denn Frau Kreutzer fuhr in ein fremdes, fernes Land und wer weiß schon, ob man sie je wieder sehen würde. Mitunter passierte auch ein dramatisches Zwischenspiel, wenn sich herausstellte, dass ein Pass, eine Fahrkarte oder ähnlich Wichtiges noch zu Haus lagen. Herr Tütel, der einzige Autofahrer der Gemeinde, raste dann mit meinem Vater los, um in letzter Minute noch das Vergessene durch’s Fenster des abfahrenden Zuges zu werfen.

Wir Mädchen liegen im Abteilfenster übereinander, schwenken fröhlich unsere Taschentücher um die Wette bis die Lieben bei der ersten Biegung unseren Blicken entschwinden. Das Fenster wird hochgeschoben, wir suchen unsere Plätze auf der Holzbank und melden in großer Einmütigkeit „wir haben Hunger“. Dann beginnt das Ritual: Meine Mutter holte die pralle Ledertasche aus dem Gepäcknetz, sieht sich im Abteil um und fixierte die Dame am Fenster ‚Gestatten Sie, dass ich mich auf ihren Platz setze, ich muss jetzt Stullen schmieren’. Der Fensterdame fällt das Gesicht runter, sie schaut entgeistert, nach einer Schrecksekunde erhebt sie sich mit zusammengekniffenen Lippen und lässt mit ihrem Koffer Fensterplatz und Abteil hinter sich.

Für einen Augenblick wäre ich am liebsten in ein Mausloch gekrochen, mir ist das furchtbar peinlich und ich hadere mit dieser unmöglichen Mutter, die keine fertigen Brote eingepackt dabei haben kann, wie andere Mütter. Aber dann wird es doch spannend: Meine Mutter klappt das Tischchen hoch, breitet ein rotkariertes Küchentuch drüber, schraubt eine runde Metalldose auf, in der die Butter im Wasser schwimmt, dazu kommen weitere Behälter mit Käse, Wurst, Marmelade. Aus der Tiefe der Tasche zieht sie ein dickes Brett, darauf landet ein länglicher Brotleib. Nun kann die Fütterung beginnen: Mit einem scharfen Messer, aus einem Küchentuch gewickelt, säbelt meine Mutter den ersten Kanten runter (das begehrte Knäußchen!), schmiert Butter drauf und Belag nach Wunsch. Dann die nächste. Ist die vierte befriedigt, hat die erste schon wieder Hunger. Sonst eher Mäkelsusen schmeckt es hier einfach köstlich und außerdem machen wir uns einen Mordsspaß draus, unsere Mutter mit Brotsäbeln zu beschäftigen, was auf dem wackligen Klapptisch wie ein Clownsnummer aussieht. Nebenbei leert sich das Abteil. Als wir ganz unter uns, werden die restlichen Fressalien wieder in die Tasche gestopft und ins Gepäcknetz verfrachtet.

Nun kommt das nächste Ritual: Vorbereitung des Nachtlagers. Jede bekommt ihren Platz, zwei auf den Holzbänken, eine auf dem Gang dazwischen, auf dem zuunterst Zeitungen ausgebreitet werden, da liege ich, und für Claudia ist Platz im Gepäcknetz. Von da aus wird sie später dem kontrollierenden Schaffner die Mütze vom Kopf reißen, einfach weil er sie übersieht und nicht reklamiert, wo sie doch auch in Mutterns Pass steht.

Was war das für eine selige Geborgenheit im Unterwegssein mit dem blauen Licht an der Decke, den rollenden Rädern unter mir, dem sanften Geschaukel im einlullenden Takt: rucke – rucke – rucke –

Aufregend wurde es, wenn der Zug hielt, Reisende aus- und einstiegen. Die verschiedenen Stimmen in der Dunkelheit, die fremde Sprache, das schnarrende Geräusch der zur Seite geschobenen Abteiltüren. Heftiges Herzklopfen, wenn es die unsere war. Und Aufatmen, wenn der Zug wieder weiterfuhr und niemand das Licht angeknipst hatte.

Am nächsten Tag dann Budapest, die zweijährige Station meiner Eltern vor Berlin. Die Nenis (Tanten) der deutschen Gemeinde sind zum Empfang reichlich vertreten. Wieder gibt es Umarmungen, Tränen, Begrüßungsgeschenke. Meine Mutter spricht fließend ungarisch und wird damit zur fremden Frau, wir fühlen uns vernachlässigt. Im Pastorenhaus ist die lange Kaffeetafel mit Torten und Gebäck reichlich beladen. Wir müssen mit den anderen Kindern im Kinderzimmer verschwinden bei Kakao und Milchsemmeln, während meine Mutter Hof hält und Doboschtorte isst. Wir sind empört und fühlen uns von ihr verraten. Zur Nacht aufgeteilt in verschiedene Betten, geht es am nächsten Tag weiter ins Batschkadorf Vrbas, wo eine zahlreiche Verwandtschaft schon voll Spannung auf uns wartet und sich im Dorf die Neuigkeit verbreitet: die Deitschländer seins wieder do.

Für die Berliner Gören vom Wedding beginnt hier die große Freiheit: beim ausgelassenen Schwimmen im Kanal (über den mein Vater unverständlicherweise von schmutziger Pfütze sprach), beim Kopfsprung vom Frachter, beim Toben in den heißen Sandbergen mit brennenden Fußsohlen ob der heißen Sonne, beim Klettern auf den Stapeln von Rundhölzern in der Kalk- und Holzhandlung des Großvaters, beim Familie spielen hoch im Schattach zwischen den Maiskolben mit den Cousins und Cousinen. Die sind auch sehr gut zu gebrauchen, wenn wir Aufführungen einstudieren, z.Bsp. Hänsel und Gretel. Wir schneiden dazu Eintrittskarten aus Pappe, die wir im Dorf, vor allem beim Kaufmann für 25 Bara verkaufen. Vor der langen Pergola, unserer Bühne, werden Stühle aufgereiht und die Besucher strömen, hauptsächlich Bauersfrauen mit schwarzen Tüchern um Kopf und Schultern. Ich fange an mit Sah ein Knab ein Röslein stehn, tänzele als Knabe um die jüngere Heidi-Rose und singe dazu. Habe aber große Mühe die Stimme zu halten, denn Onkel Djury steht in Augenhöhe hinter dem seitlichen Fenster und äfft mich grinsend nach mit übertriebenen Grimassen. Dann kommt das Märchen. Beate als Hexe verdrischt mich Hänsel auf dem Weg zum Käfig mit schallenden Ohrfeigen. Mein Gesicht brennt, ich will nicht mehr weiterspielen, bin beleidigt. Da beginnt die Hexe Beate leise zu flehen und zu streicheln. So geht das Stück schließlich weiter, kommt zum guten Ende mit viel Applaus.

Das Schönste von allem war, wenn der Eismann bimmelte und mit seinem Dreirad auf den Hof fuhr. Unsere gute Oma spendierte uns Dinar, so dass jede ihre Tüte bekam hoch getürmt mit bunten Kugeln. Nie wieder war Eis so köstlich wie das Sladolet jener heißen Tage. Und nie ist mir Kindheit leuchtender als in den Ferien im Batschka-Dorf bei den Großeltern.

 

Dec. 24. 2020